5 Jahre Holokratie: 10 Fragen und Antworten über Holokratie

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Antje Strenge - Duursma

11 Juli 2022 Clock 8 min

Autorenkollektiv bei Voys

Im März 2020 arbeitete Voys bereits 5 Jahre mit Holokratie. Wo stehen wir jetzt und was haben wir von diesem Organisationsmodell gelernt? Darüber berichten wir in der Reihe „5 Jahre Holokratie“.

Diederick Janse ist Mitbegründer von Energized.org und Co-Autor des Buches „Getting Teams Done“. Im Jahr 2015 half er Voys bei der Einführung von Holokratie als Organisationsmodell. Im zweiten Teil der Reihe „5 Jahre Holokratie“ beantwortet Diederick Janse die 10 am häufigsten gestellten Fragen über Holokratie. Im ersten Teil widmet sich unser Mitarbeiter Mark dem Thema Führung und Management in einer selbstverwalteten Organisation. Im letzten Teil der Reihe erläutert Wouter, Holokratie-Coach bei Voys, die aus dem Organisationsmodell gelernten Lektionen.

Diederick Janse bei einem Holokratie-Meetup

1. Was ist Holokratie?

„Holokratie ist eine Methode, die als Grundlage für die Selbstorganisation von Teams und (vor allem) von ganzen Organisationen dient. Die Methode zeichnet sich durch den Fokus auf strukturierte Besprechungen und explizite Spielregeln aus, die in einer Verfassung festgehalten werden. Die Holokratie-Methode wurde von Brian Robertson entwickelt, einem amerikanischen Programmierer und Unternehmer, der in seinem eigenen Unternehmen mit zahlreichen innovativen Arbeitsweisen experimentierte. Schätzungsweise arbeiten in den Niederlanden neben Voys inzwischen einige hundert Unternehmen holokratisch.“

2. Weshalb sollte sich ein Unternehmen für Selbststeuerung entscheiden?

„Schön, dass Sie ausgerechnet „Selbststeuerung“ sagen. Wir wählen das Wort „Selbstorganisation“, weil es die Bedeutung besser erfasst. Die Wörter werden vielfach als Synonym verwendet und drücken oft dasselbe aus. Es gibt aber einen Unterschied.

Bei Selbststeuerung wählt ein Team das Ziel selbst. Bei der Selbstorganisation ergibt sich das Ziel des Teams oder des Kreises aus dem Ziel der Organisation. Man könnte sagen, dass bei der Selbstorganisation die Bildung eines Kreises hilfreich für die Verwirklichung der Mission des Unternehmens ist, wohingegen bei der Selbststeuerung das Team selbst das Ziel ist.

Zurück zur Frage „Weshalb sollte man sich dafür entscheiden?“. Es gibt verschiedene Gründe, aus denen Unternehmen die Selbstorganisation wählen, aber ihnen ist eines gemeinsam: die Überzeugung, dass die gängige Managementhierarchie nicht oder nicht mehr zu der Kultur und den Ambitionen der Organisation passt. Zum Beispiel, weil Führungskräfte darin zu wichtig sind und die Mitarbeiter zu wenig Eigenverantwortung spüren und demnach zu wenig Verantwortung übernehmen. Oder weil die Organisation sich viel schneller und kontinuierlicher, als dies in einer Managementhierarchie möglich ist, anpassen muss. Oder weil Organisationen mehr Kontrolle und Autonomie an jene Mitarbeiter geben möchten, die den meisten Kundenkontakt haben. Oder weil Unternehmer es leid sind, Führungskraft sein zu müssen, und den Unternehmergeist unter Mitarbeitern anregen wollen.

Es gibt also die unterschiedlichsten Gründe, sich für die Selbstorganisation zu entscheiden!

3. Wenn man sich für Selbstorganisation entscheidet, weshalb dann ausgerechnet Holokratie und nicht eine andere Form?

„Bei vielen Unternehmen wird Selbstorganisation wie Straßenfußball betrieben: ohne Spielregeln und ohne Schiedsrichter. Solange es gut geht, macht es Spaß. Entsteht aber ein Konflikt über die Spielregeln, dann wird es schwierig. Beim Straßenfußball gewinnt derjenige mit dem größten Mundwerk oder den meisten Freunden oder der, dem der Ball gehört. So funktioniert es auch in Organisationen und dann bleibt das bestehende Machtgefüge intakt. Möchte man das Machtgefüge wirklich ändern, muss man es durch ein neues Machtgefüge mit klaren Spielregeln, einem gleichen Spielfeld und geschulten Schiedsrichtern (nicht den Führungskräften) ersetzen. Der Vorteil ist, dass man das Rad mit Holokratie nicht neu erfinden muss. Der Nachteil ist, dass man sich eine Methode mit einer beträchtlichen Lernkurve (oder besser Verlernkurve) aneignen muss. Holokratie passt gut zu Organisationen und Mitarbeitern, die den Wert von Struktur und Spielregeln einsehen. Wem das nicht liegt und wer (Straßen-)Fußball in aller Freiheit und voller Kreativität spielen möchte, entscheidet sich gegen Holokratie.“

4. Es klingt selbstverständlich, dass Selbstorganisation in kleinen Organisationen funktioniert, aber wie sieht es bei größeren Unternehmen aus?

„In größeren Unternehmen ist die Führungshierarchie oft formaler und stärker in der Unternehmenskultur verankert als bei kleinen Organisationen. Dies erschwert den Schritt zur Selbstorganisation. Der Vorteil eines methodischen Ansatzes der Selbstorganisation (wie bei Holokratie) ist die bessere Skalierbarkeit. Allmählich wagen auch immer größere Organisationen (mit Hunderten oder Tausenden von Mitarbeitern) den Schritt zur Selbstorganisation.

Bei größeren Organisationen sind die verschiedenen Managementprozesse wie Beurteilung und Belohnung, Budgetierung und Zielsetzungen viel stärker formalisiert. Dann ist es viel schwieriger, diese Prozesse in eine Organisation ohne Führungskräfte umzubauen als bei kleinen Organisationen. Aber auch in größeren Organisationen wird viel experimentiert und es entstehen immer mehr inspirierende Beispiele, wie Dinge anders angegangen werden können!

Im Grunde ist die Begeisterung und die Ausdauer der Initiatoren entscheidend, unabhängig von der Unternehmensgröße.“

5. Wer ist in einem holokratischen Unternehmen der Chef?

„In einem holokratischen Unternehmen füllt jeder eine oder (meist) mehrere Rollen aus, und jeder Rolleninhaber ist innerhalb dieser Rolle vollständig entscheidungsbefugt. In diesem Sinne ist also jeder der Chef – der eigenen Rollen. Wenn Meinungsverschiedenheiten oder Prioritätskonflikte entstehen, wird nicht auf eine Führungskraft zurückgegriffen, sondern auf den Auftrag (Zweck) der eigenen Rollen, der Kreise, denen man angehört, und letztlich der Organisation als Ganzes.

Letztendlich ist also die Mission der Chef, nicht eine Person.“

6. Wer entscheidet bei einem holokratischen Unternehmen, was zu tun ist?

„Sie! Wenn Sie eine Rolle haben, sind damit immer ein Auftrag (Zweck) und Verantwortlichkeiten verbunden. Niemand gibt vor, wie diese Rolle auszuführen ist oder welche Entscheidungen zu treffen sind. Das ist eine gute wie auch eine schlechte Nachricht, denn zur Freiheit gehört auch Verantwortung: Manchmal ist es ziemlich spannend, eine Rolle zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Was passiert, wenn es schief geht? Was sollen meine Kollegen denken?

Für das Gelingen der Selbstorganisation ist ein gemeinschaftliches Klima notwendig, in dem sich Mitarbeiter sicher (genug) fühlen, Risiken einzugehen und Eigenverantwortung zu übernehmen.“

7. Wer trifft in einem holokratischen Unternehmen die Entscheidungen?

„Die zuständige Rolle!

In der Holokratie sind Rollen mehr als schicke Funktionstitel, sie beschreiben sehr genau den Auftrag und die Befugnisse des jeweiligen Mitarbeiters und was die Kollegen von jemandem erwarten dürfen. Dies bietet zahlreiche Anhaltspunkte dafür, wie Entscheidungen getroffen werden. In einer Führungshierarchie können Entscheidungen immer durch höhergestellte Personen „überstimmt“ werden.

In holokratischen Organisationen verlieren die Personen dieses Recht mit der Unterzeichnung der Verfassung. Sie können jedoch, wie jeder andere Mitarbeiter auch (gleiches Spielfeld), einen Vorschlag zur Überprüfung der Verantwortlichkeiten und Befugnisse der Rollen machen. Das sind „Meta-Entscheidungen“ darüber, wie Entscheidungen getroffen werden, und dies geschieht in einer Rollenbesprechung (pro Team), in der alle Teammitglieder eine Stimme haben.“

8. Gibt es in der Holokratie wirklich keine Hierarchie?

„Natürlich! Das Wort „Hierarchie“ bezeichnet in Organisationen meist die Führungshierarchie, in der Mitarbeiter mehr zu sagen und entscheiden haben, je höher sie in der Hierarchie stehen.

Auch in der Holokratie gibt es eine Hierarchie, jedoch keine Rangfolge von Positionen und Macht, sondern von Zielen (Zweck). Das heißt, dass Rollen und Kreise um ein gemeinsames Ziel herum organisiert werden und dass es einen kontinuierlichen Austausch (in traditionellen Begriffen: Top-down und Bottom-up) darüber gibt, was Rollen und Kreise voneinander brauchen. Man kann es mit dem Körper vergleichen, der aus kleinen Teilen (Molekülen) besteht, die jeweils ein eigenes Ziel haben und zugleich Teil eines größeren Ganzen sind (Organellen). Letztere haben wiederum ein eigenes Ziel und sind selbst Teil eines größeren Ganzen (Zellen) usw. Wer ist in dem Fall der Chef? Der Körper kennt keine „CEO-Zelle“, wohl aber eine natürliche Hierarchie autonomer Prozesse und Strukturen.

Wer seine Rolle ausfüllt, agiert in einer solchen natürlichen Hierarchie mit viel Autonomie und Freiheit, aber auch mit klaren Rahmenbedingungen und ständiger Abstimmung mit dem Umfeld.“

9. Holokratie arbeitet mit Rollen, statt mit Positionen. Was ist eigentlich der Unterschied?

„Auf den ersten Blick ähnelt eine Rolle einer Funktion. Eine Funktionsbeschreibung beschreibt schließlich auch die Verantwortlichkeiten und Befugnisse. Dennoch gibt es wichtige Unterschiede.

Erstens werden Funktionen durchgängig präzise entworfen und dann (schriftlich) festgelegt. In der Praxis wird diese Festschreibung selten oder nie geändert. So bleibt eine Funktion jahrzehntelang gleich, ohne auch nur über Anpassungen nachzudenken. Eine Funktionsbeschreibung ist daher ziemlich statisch.

Eine Rolle ist eine Widerspiegelung eines Teils der Arbeit im Unternehmen. Sie ist also kleiner als eine Funktion und oft füllen Mitarbeiter deshalb mehrere Rollen aus. Vorschläge für Rollen kommen aus dem Kreis. Die Rollen werden also nicht von der Personalabteilung erfunden. Da der Kreis die Rollen selbst vorschlägt, basiert die Beschreibung auf den tatsächlich ausgeführten Tätigkeiten und nicht auf der Arbeit, die theoretisch getan werden sollte. Jeder in der Organisation überprüft stetig, ob die Beschreibung der Rolle noch stimmt, und falls dies nicht so ist, wird die Rolle angepasst und verbessert.

Jetzt könnte man denken, dass dieser Satz an Rollen, die ein Mitarbeiter innehat, immer noch eine Funktion ist. In der Praxis verläuft dies viel geschmeidiger: Alle Rollenpakete können verschieden sein, Rollen ändern sich ständig und werden verbessert. Sie können auch leichter zurückgegeben oder aufgegriffen werden.“

10. In der Holokratie darf man seine Rolle(n) doch zurückgeben. Wie funktioniert das, kann man dann einfach nichts tun oder irgendetwas anderes?

„Richtig! Man wird gefragt, bestimmte Rollen zu übernehmen, und darf „Ja“ oder „Nein“ sagen. Wer „Ja“ sagt, kann die Rolle später auch wieder zurückgeben, ohne dass die Erlaubnis anderer erforderlich wäre. Der Kreis muss dann natürlich eine andere Person suchen, die Zeit, Energie und Talent für diese Rolle hat.

Es kommt in der Praxis selten vor, dass Mitarbeiter alle ihre Rollen zurückgeben. Menschen füllen häufiger sechs Rollen aus und geben eine davon zurück, eventuell um Zeit für eine neue, andere Rolle zu schaffen. Meistens werden darüber Vereinbarungen getroffen und Holokratie bietet dafür die entsprechenden Instrumente.Gäbe man alle seine Rollen zurück, hätte das natürlich Konsequenzen. Vermutlich fragt sich dann mindestens eine Rolle in der Organisation (wahrscheinlich HR), weshalb jeden Monat weiterhin brav das Gehalt überwiesen wird. :)“