Im März 2020 arbeitete Voys bereits 5 Jahre mit Holokratie. Wo stehen wir jetzt und was haben wir von diesem Organisationsmodell gelernt? Darüber berichten wir in der Reihe „5 Jahre Holokratie“. In diesem ersten Teil widmet sich unser Mitarbeiter Mark dem Thema Führung und Management in einer selbstverwalteten Organisation.
„Management? Davon verabschiedet man sich doch gerade in einer selbstverwalteten Organisation, oder?“
Nach 7 Jahren Selbstverwaltung, davon 5 Jahre mit Holokratie und einem Team von ungefähr 120 Personen in 4 Ländern, kann ich wohl etwas zum Thema Führung schreiben. Wie steht es in einer selbstverwalteten Organisation mit Management und Führung? Nach den Aspekten Gehalt und Belohnung ist dies die meist gestellte Frage. Wenn ich auf einer Bühne stehe und wenig Zeit habe, dann beantworte ich die Frage mit einem Zitat.
„Eine Führungskraft wird gebeten, sich einzumischen; Manager mischen sich ein, ohne dass es erbeten und erwünscht ist.“
Ein toller Oneliner, um eine Diskussion abzuschließen, wobei die Wahrheit irgendwo in der Grauzone liegt. Wer denkt, dass es bei einer selbstverwalteten Organisation keine Führung gibt, liegt falsch. Das Gegenteil ist wahr. Selbstverwaltung hat viel mit Führung zu tun. Nur liegt die Führung nicht zentral bei wenigen Personen. Sie steckt in jedem Einzelnen und in der Organisation als Ganzem.
Die Unterzeichnung der „Holokratie-Verfassung“ stellte den Startschuss für die Einführung von Holokratie als Organisationsform dar.
Um dies zu erklären, wenden wir uns kurz der Gruppentheorie zu. Ich höre regelmäßig: „Ja, also bei uns funktioniert diese Holokratie nicht“, wonach sich herausstellt, dass es ein Experiment mit einem Team von 25 oder viel weniger Personen war. Meiner Meinung nach ist Holokratie dafür nicht ausgelegt.
Für mich bedeutet Selbststeuerung:
A: Jeder weiß, wohin wir gehen. (Zweck)
B: Jeder weiß, wie er oder sie dazu beitragen kann. (Meisterschaft)
C: Jeder kann und darf dies tun. (Autonomie)
In einem Unternehmen mit bis zu 25 Personen kennt man sich gut genug und ist hinreichend miteinander verbunden, um Tätigkeiten untereinander abzustimmen. Eine gute Geschäftsführer/-in oder Gründer/-in gibt den Mitarbeitern den Freiraum, ihr Ding zu tun. Ihre Aufgaben besteht dann darin, dienend zu führen. Transparenz, deutliche Kommunikation und kurze Wege reichen, um gemeinsam den richtigen Weg einzuschlagen.
Wird eine Organisation größer – bei Voys der Zeitpunkt des 30. „Strolchs“ –, ist etwas anderes nötig. Dann weiß man nämlich nicht mehr, wer was in der Organisation ausführt und wer wofür verantwortlich ist. Die Abstimmung mit den Mitarbeitern findet nicht mehr beim Mittagessen statt und das Ziel der jeweiligen Teams wird spezifischer.
Holokratie wird als Organisationsform für Unternehmen relevant, die mehr als 20–25 Mitarbeiter haben oder darauf zuwachsen. Holokratie funktioniert mit Teams/Zellen/Zirkeln. Ein Zirkel hat eine Existenzgrundlage: den Zweck. Da Holokratie über ein feststehendes Meeting-Format für Arbeitsbesprechungen und für Änderungen der Organisationsstruktur verfügt, hat jeder Kreis einige feste Rollen: einen Sekretär und einen Gesprächsmoderator. Zudem gibt es die Rolle des Zirkel Leiters, die wir uns später genauer anschauen.
Der Zirkel füllt sich mit Rollen, die durch die Mitglieder des Zirkels selbst angelegt werden. Ein Zirkel hat eine Existenzgrundlage (Zweck) und Verantwortlichkeiten (Rechenschaftspflicht). Der Zirkelleiter oder Lead Link weist eine Rolle der Person zu, die am besten zu der Rolle passt. So entsteht ein ausgefüllter Zirkel. Da sich Rollen ändern, wegfallen oder hinzukommen, befindet sich der Zirkel in einer ständigen Reorganisation.
Wenn ein Unternehmen Holokratie als „Managementsystem“ wählt, werden die ehemaligen Führungskräfte oft Lead Links. Ein Lead Link hat einige festgelegte Verantwortlichkeiten; Die Rolle ist verantwortlich für:
Bei den ehemaligen Führungskräften, die Lead Link werden, gibt es zwei häufige Reaktionen:
Beide Reaktionen sind in meinen Augen nicht gut. Wie sieht die neue Führungsweise dann aus? Gehen wir einmal die Verantwortlichkeiten der Rolle „Lead Link“ durch.
Jede Rolle darf jederzeit die Struktur oder den Zweck des Zirkels ändern. Der Lead Link ist dafür verantwortlich, dass der Zweck des Zirkels stimmt. Außerdem überwacht er/sie die Struktur, damit der Zweck des Zirkels so gut wie möglich realisiert wird. Wenn der Zweck klar genug ist, ergeben sich daraus kleine und größere Teile Arbeit. Große Teile der Arbeit können Sub-Zirkel werden, kleine Teile werden Rollen.
Ein Lead Link legt fest, wem eine bestimmte Rolle zugewiesen wird. Dabei ist für die beste Rollenfindung zu sorgen. Anders formuliert: Passt die Rolle wirklich zu der Person, der sie zugewiesen wird?
Der Lead Link kann und wird also immer kritisch sein, ob eine Rolle am besten zu der Person passt, die sie gerade ausführt. Dabei ist es wichtig, mit verschiedenen Personen in einer bestimmten Rolle zu experimentieren. Oft gibt es einen Zusammenhang zwischen dem, was Menschen gern tun, und dem, was sie gut können. Eine erforderliche Rolle wird oft auch von einer Person angelegt, die die Arbeit gerne machen möchte. Das Gegenteil ist aber auch möglich. Manchmal erfüllt eine Person bestimmte Teile seiner Rolle nicht gut und möchte sie deshalb nicht mehr ausführen. Für diese Tätigkeit(en) legt sie dann eine neue Rolle an.
Dabei hilft ein Rollenmarktplatz. Das ist ein Ort für neue Rollen, an dem Mitarbeiter auch angeben können, dass sie eine bestimmte Tätigkeit gern übernehmen würden. Dann bestimmt der Lead Link, ob dies auch die beste Person für diese Rolle ist.
Eine Anmerkung zu Vielfalt. In den Niederlanden neigen weniger Frauen als Männer dazu, sich für anspruchsvolle Arbeiten zu melden. Auch sind Personen mit einem anderen kulturellen Hintergrund bisweilen weniger in Führungspositionen tätig als Menschen mit niederländischen Wurzeln. Deshalb kann es sinnvoll sein, auch auf einem Rollenmarkt proaktiv einen guten Kandidatenpool für eine bestimmte Rolle zu suchen, um die Vielfalt zu fördern.
Der Lead Link ist für die Strategie verantwortlich. Dennoch ist diese Rolle nicht derjenige, der die Arbeit ausführt und oft auch nicht derjenige, der die Strategie festlegt. Der Lead Link ist dafür verantwortlich, dass es eine Strategie gibt und dass die Struktur des Zirkel die bestmögliche Ausführung der Strategie gewährleistet. Deshalb ist der Lead Link für die Zuordnung der richtigen Personen zu den jeweiligen Rollen verantwortlich.
Übrigens haben wir bei Voys in den vergangenen Jahren ein Format erarbeitet, mit dem wir die Strategie als ganzen Zirkel gemeinsam definieren können. Wir haben darüber sogar ein e-Book (download hier in niederländisch) geschrieben. Die Strategie muss klar sein – kommunizieren Sie sie viel und oft – und flexibel genug. Die Welt ändert sich, der Zirkel ändert sich, die Arbeit ändert sich und die Strategie bewegt sich mit.
Der Lead Link ist für die Prioritäten eines Zirkel verantwortlich. Das ist eine ziemlich spannende Verantwortung. Eine Rolle darf nämlich den Lead Link fragen, welche Prioritäten innerhalb dieser Rolle zu gelten haben. Wenn zwei Rollen einen Interessenkonflikt haben, der durch Prioritätensetzung gelöst werden kann, können sie den Lead Link danach fragen. Die führende Rolle darf bei Rollen aktiv steuern, um bestimmten Dingen mehr Priorität einzuräumen. Nicht erlaubt ist jedoch, festzulegen, was die Rollen tun und wie sie es tun. Die Festlegung von Prioritäten ist folglich eine Verantwortlichkeit, mit der sparsam umgegangen werden sollte. Klarheit, Transparenz, Kommunikation und eine gute Strategie mit Prioritäten – dies alles sorgt dafür, dass die Rollen eines Kreises ihre Arbeit gut und ohne Eingreifen des Lead Links priorisieren können.
Hat ein Zirkel ein Budget? Dann ist der Lead Link für die Zuweisung des Budgets an die (verschiedenen) Aktivitäten verantwortlich. Bei Voys haben wir uns dafür entschieden, dies anders zu organisieren. Ich habe in der Hinsicht also keine Ratschläge. Ein Artikel über unsere diesbezügliche Lösung könnte in einem separaten Artikel behandelt werden. Wer weiß, vielleicht kommt das noch.
Zum Schluss: die Kennzahlen. Wenn Holokratie gut funktioniert, entsteht eine kontinuierliche Bewegung aus Bauen, Messen und Lernen. Dies spiegelt sich nicht nur in den Inhalten der Arbeit wider, sondern auch in der Struktur der Organisation, der Zirkel und der Rollen. Der Schritt des Messens ist extrem wichtig und wird in der Umsetzung von Veränderungen oft vergessen. Was funktioniert und warum? Kennzahlen helfen bei der Beantwortung dieser Fragen. Und genau wie die Festlegung von Prioritäten sind auch Kennzahlen spannend.
Ein Lead Link darf die Kennzahlen erstellen, legt aber keine Ziele fest. Nur weil etwas messbar ist, ist es nicht auch wichtig – denn wichtige Dinge sind nicht immer messbar.
Die Kennzahlen sollen ausweisen, ob das Ziel erreicht wird. Sie können etwas über den Gesundheitszustand der Organisation aussagen und mit den Daten helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die Kennzahlen können ein Anlass sein, weitere (weitreichende) Veränderungen durchzuführen. Sie sind aber niemals ein Stock um damit zu schlagen.
Kennzahlen werden oft einer Rolle zugeordnet. Sind Sie für eine Kennzahl verantwortlich? Stellen Sie sicher, dass Sie alle Einzelheiten kennen: Erzählen Sie die Geschichte hinter der Kennzahl und nicht die statische Zahl.
Der Lead Link ist für die Kennzahlen verantwortlich, jede Rolle darf sie jedoch aufstellen, solange sie zum Zweck der Rolle passen. Wenn Sie eigene Kennzahlen haben, bedeutet das nicht immer, dass Sie diese in einem Meeting teilen müssen. Auch ein Dashboard mit stets verfügbarer Echtzeitübersicht kann praktisch sein.
Manches ist nicht messbar, weshalb es dafür keine Kennzahlen gibt. Bei Voys gibt es ganze Zirkel ohne Kennzahlen und es gibt Zirkel mit mehr als 10 Kennzahlen, die regelmäßig besprochen werden.
Neben den Kennzahlen sagen auch die Teamentwicklung und der Projektfortschritt viel über die Leistung eines Zirkel und die Erfüllung des Zwecks aus. Wenn diese mitgezählt werden, gibt es für jeden Zirkel reichlich Kennzahlen.
Dies sind also die Zuständigkeiten des Lead Links. Das mag viel erscheinen, aber wenn alles gut eingespielt ist, erfordert diese Rolle nur 10 % der wöchentlichen Arbeitszeit, die anderen 90 % gelten anderen Rollen. Das sind Rollen, wie sie jeder Mitarbeiter hat. Diese Rollen erledigen die Arbeit und bestimmen auch, wie und warum die Tätigkeiten ausgeführt werden. Die Mitarbeiter treffen diesbezüglich ihre eigenen Entscheidungen. Und genau darin liegt die Führung. Jeder ist für seine eigene Rolle und die zugehörige Arbeit verantwortlich. Auf diese Weise ist jeder Mitarbeiter – innerhalb der eigenen Rollen – Führungskraft.
Im zweiten Teil der Reihe „5 Jahre Holokratie“ beantwortet Diederick Janse die 10 am häufigsten gestellten Fragen über Holokratie. Diederick Janse ist Mitbegründer von Energized.org und Co-Autor des Buches „Getting Teams Done“. Im Jahr 2015 half er Voys bei der Einführung von Holokratie als Organisationsmodell. Im dritten und letzten Teil der Reihe erläutert Wouter, der Holokratie-Coach bei Voys, die Lektionen, die wir aus dem Organisationsmodell gelernt haben.